Brentanos Studio: Øya – 77 Bilder von Hannes Weigert

Goetheanum in Dornach/Schweiz, bis 7. Januar 2018, täglich 8-22 Uhr
(siehe auch Webseite von Hannes Weigert)

77 Bilder in vier dreireihigen Blöcken, direkt unter dem Gipfel des Westtreppenhauses im Dornacher Goetheanum, unterhalb des roten Fensters, im Dämmerlicht. 77 Bilder in (fast) gleichem Format. 77 Farbflächen, mal mehr, mal weniger differenziert. Verhaltene Grau-, Grün- und Rottöne dominieren. Manchmal kommt Weiß hinzu. Im Dämmerlicht des Treppenhauses wirken sie stumpf und transparent zugleich. Mal öffnen sie sich, mal verschließen sie sich – je nach den momentanen Lichtverhältnissen, aber auch je nach dem, wie ich gerade schaue.

Mal mehr, mal weniger deutlich erkennt man einen Kopf. Oder das Fragment eines Kopfes, dessen ganzer Umriss nur zu erahnen ist – wie der ganze Mond angesichts der schmalen Sichel. Was man sieht (oder zu sehen meint), ist ein Hinterkopf, von schräg hinten »aufgenommen«, so dass sich ein meist nach rechts gerichtetes Profil gerade noch andeutet. Mal sitzt es fast mittig im Bild sitzt, mal mehr links, gelegentlich aber auch auch ganz nahe am rechten Bildrand. An weiteren Details sind höchstens Ohren, manchmal noch Haare auszumachen sind. In die Augen kann man (fast) nie schauen. Die vier letzten Bilder scheinen den Kopf en face zu zeigen, doch das Antlitz bleibt leer.

Die Bilder sind flach, ihre Tiefe liegt nicht im Sichtbaren, sondern im hinteren Raum – und in dem Raum, in den, vielleicht, die Augen der Köpfe gerichtet sind. Doch ich sehe nicht, was sie, vielleicht, sehen. Es scheint, als ob sie sich von zwei Seiten her aus dem Unsichtbaren zur erscheinenden Fläche verdichten.

Nicht nur ich als Betrachter sehe etwas, was nicht zu sehen ist (auf diesen Vorgang verwies Bodo von Plato mit seinen das Bilderstudio eröffnenden Worten), sondern auch der Blick der Köpfe ist auf ein solches gerichtet.

Hannes Weigerts Bilder stellen nicht etwas dar. Insofern sind sie abstrakt. Sie sind Dokumente einer Selbstprüfung, angeregt durch ein Ereignis, das sich dem vorstellenden Denken entzieht. Insofern ist auch dieses Ereignis abstrakt: Unvermittelt tritt etwas in die Erscheinung, dessen Ursachen im Dunkeln bleiben und dessen verheerende Wirkungen sich nicht im Sichtbaren erschöpfen.

Auf einigen Bildern erscheinen Zahlen. Man könnte sie für eine Nummerierung halten, doch im Nachzählen zeigt sich, dass sie immer wieder aus der numerischen Logik herausfallen. So werden sie zu Zeichen, wie alle 77 Bilder als Zeichen wirken – für was und für wen? Für Menschen, die weder der Maler kennt noch ich selbst kenne? – Also keine Porträts.

In den Formen und Konturen der Bilder drückt sich etwas ab, was ich räumlich nicht verorten kann. Dieser Abdruck hat zwar eine Richtung, doch auch diese Richtung finde ich nicht wirklich im Raum; ich stehe vor einer Art Vexierbild. So ereignet sich jedes Bild immer wieder neu, zwischen etwas Prägendem und somit Vorhandenem und etwas noch nicht Fassbarem, Möglichen. Das Bild selbst ist pure Geistesgegenwart, und dadurch bin ich selbst in jedem Bild. Also (er)kenne ich doch etwas bzw. lerne etwas kennen: mich. Und durch mich hindurch: die Welt – im Sicht- wie im Unsichtbaren. So ist es vielleicht auch dem Maler gegangen.

Durch das Zusammenspiel verschiedener Wirklichkeitsebenen werden die Bilder zu Collagen ganz eigener Art. Das macht ihre Wirklichkeit aus. Sie entsteht im Moment, sei es auf der Leinwand, sei es im Auge. Das ist nicht mit einem Bild abgetan. Dazu braucht es viele Bilder, hier 77 an der Zahl, um mich einem unfassbaren Ereignis anzunähern. So stehe ich auf einmal mitten zwischen Opfer und Täter.

Ein zweifaches Drittes

Blicke nur ich in 77facher Weise auf einen Hinterkopf, um mit ihm zu blicken? Oder ist da noch etwas anderes, Drittes in mir, was diese Köpfe ins Visier nimmt, mit ihnen blickt – wohin? Der Blick zielt ins Unbestimmte, ja Unbestimmbare. Ist es Fülle? Ist es Leere? Ist der Blick, den ich nicht sehen kann, erfüllt? Oder leer?

Es bleibt ein stumpfer Klang. So wie auch die farbigen Bildflächen ihre Stumpfheit nicht verlieren. Da bleibt eine große Frage – besser vielleicht: Da wird eine große Frage sichtbar: Bin ich als Blickender einer, der etwas von hinten ins Visier nimmt? Auf wen blicke ich? Mit wem blicke ich – auf was? Hat dieser etwas vor sich? Oder ist ihm das, was er vor sich hat(te), gerade genommen? Wer bin ich in diesem ernsten Spiel?

Vor das, was bei aller Verhaltenheit zunächst wie leicht und offen daher kommt, schiebt sich, je länger ich schaue, ein ernster Schleier. Anders ausgedrückt: Das, was als Ereignis sinnlich erscheint, ist nicht einfach nur Durchlass oder Katalysator zwischen zwei Unsichtbarkeiten. Es ist tatsächlich eine Schwelle, an die ich stoße – so wie an die graue Betonwand hinter den Bildern. Ich tappe nicht nur im Dunkeln, ich stoße mich auch – an mir.

Und dann ist da noch ein weiteres Drittes. (Der Logik nach wäre es ein Viertes, doch gilt diese Logik hier?) Etwas, das unabhängig von allem anderen einfach da ist, durch das, was da ist, und bemerkt werden will. Auch dieses blickt – doch von wo? Von hinten? Von vorn? Diesen Blick spüre ich ahnend, ohne ihn zu sehen. Er ist unsichtbar, ohne sich zu verbergen. Er ist nicht unbestimmt, fixiert aber auch nicht. Er urteilt nicht, legt aber offen.

Vielleicht begegnet er mir als Bild ein paar Stufen höher, am Ziel des Treppenhauses, in dem ich mich bewege, dem Eingang zum großen Saal des Goetheanums – wenn ich mich dort noch einmal umwende, bevor ich ihn betrete, und aufschaue zum roten Fenster. Doch ist es weniger das dort zur Gestalt geronnene, ernst wie aus einer anderen Welt blickende Gesicht als die Macht der durchlichteten roten Farbe, die durch es spricht. Und ich nehme dies nur war, wenn ich mich auch innerlich umwende. Diese Wendung hat sich in mir vorbereitet – im Anschauen der 77 Bilder. Und von hier aus ahne ich auch die Anwesenheit dieses Dritten in den 77 Bildern, deren dunklen Schatten durchbrechend.

So gesehen, handelt es sich bei Brentanos Studio nicht einfach um eine Ausstellung. Auch Begriffe wie Installation oder Performance treffen dieses Ereignis nur unzulänglich. Hannes Weigert hat durch seine von ihm selbst hier verorteten Bilder eine Situation geschaffen, in der ich eine Wirklichkeit an mir erfahren kann, wie sie auch die einstimmende stumme Eurythmie von Saskia Barnes zur Vernissage am 25. März erahnbar machte.

Goetheanum in Dornach/Schweiz, bis 7. Januar 2018, täglich 8-22 Uhr. Katalog, erhältlich in der Goetheanum-Buchhandlung: 18 CHF

http://www.sbk.goetheanum.org/aus-der-sektion/news/einzelansicht/article/ausstellung-brentanos-studio-77-bilder-von-h-weigert/

http://www.hannes-weigert.com

Dieser Text ist im Oktober 2017 in der Zeitschrift die Drei erscheinen.