»Im Mittelpunkt dieses Plateaus wächst ein kleiner Granatapfelbaum. Saryasi sieht ihn als Erster. ›Großer Gott, schaut mal dort. Ob man es glaubt oder nicht, das kann nur der Welt letzter Granatapfelbaum sein. Kein anderer Granatapfelbaum wächst so hoch und so abgelegen am Ende der Welt.‹ Ja, das ist der letzte Granatapfelbaum, auf einer Bergspitze, wo unsere Welt endet und die Regionen Gottes beginnen. Ein Ort, der ein seltsam grenzenloses Gefühl von Abschluss und Neubeginn in einem hervorruft. Dieser Granatapfelbaum ist auf dem Boden zweier Königreiche gewachsen: dem Reich der Realität und dem reich der Träume.
Drei Kinder sind vor diesem elenden Tag geflohen. Sie haben einen Berg erklommen, der in eine andere Welt führt.«
Aus: Bachtyar Ali: Der letzte Granatapfel. Roman. Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim, Unionsverlag Zürich 2016, TB 2017; 347 Seiten
Der letzte Granatapfel – Stephan Stockmar
»Das Leben ist ein Päckchen Glück, das mit Schmerzen gefüllt ist, wenn man es öffnet. Ein Paradies, das aus kleinen Höllen entstanden ist.« (169)
Drei Kinder sind auf der Flucht. Sie haben sich im strömenden Regen getroffen, und der blinde Nadimi bittet den elternlosen Saryasin Subhdam und den von seinen Eltern in den Wirren des Krieges getrennten Mohamadi Glasherz, ihn zu diesem verzauberten Baum zu führen, den sein Vater für ihn dort gepflanzt hat. Er müsse unter dem Baum schlafen, um seine Augen zu heilen. Auf der Suche nach weiteren Heilpflanzen für seinen Sohn – »der am meisten geliebte Sohn der Welt« (127) – wurde der Vater dann von einem Kopfgeldjäger getötet.
Im Laufe der nächtlichen Erzählungen auf einem im Mittelmeer treibenden Flüchtlingsboot zeigt sich, dass noch zwei weitere allein im Leben stehende Jugendliche zu dieser kleinen Schicksalsgemeinschaft gehören, die in diesem Zauberbaum ein sie immer wieder belebendes Zentrum findet. Beide tragen rätselhafter Weise ebenfalls den Namen Saryasin Subhdam und wissen, wie auch der erste Saryasin, nichts über ihre Herkunft. Der eine ist Kindersoldat bei einer der aufständigen Parteien und wird aufgrund eines Gerüchtes von dem ersten der Namensbrüder schließlich aufgespürt. Der dritte vegetiert halb verbrannt, völlig entstellt und so gut wie ohne Sprache in einem Heim zusammen mit tausend anderen Opfern der grausigen Bruderkriege in diesem Land. Er wird von seinem möglichen Vater Muzafari Subdham schließlich gefunden und auf den Berg zu dem Granatapfelbaum getragen. Da ist der erste Saryasin, der in der Stadt eine Gruppe Straßenverkäufer angeführt hat, schon in einer Auseinandersetzung mit der Polizei gestorben, und der zweite sitzt in einer düsteren Festung der Gegenpartei in Einzelhaft. Auch das Herz vom Mohamadi ist längst tödlich zerbrochen – aus enttäuschter Liebe. Nur der blinde Nadimi ist noch auf geheimnisvollen Missionen unterwegs. Für ihn war der Berg mit dem Granatapfelbaum »die einzige Handbreit Paradies auf Erden.« (124) Auch wenn er hier nicht das äußere Augenlicht wiedergefunden hat, so blieb ihm Granatapfelbaum der »Baum des Sehens«. (199)
Für den ersten Saryasin war es der »Baum der Unglückseligen«, und Mohamadi Glasherz nannte ihn »Baum der Inspiration«, »unserer Nähe zum Himmel«. »Glasherz war der Überzeugung, dass es Orte gibt, an denen der Mensch klarer sieht. Der Platz unter dem Granatapfelbaum war so. Wir träumten davon, eines Tages nicht mehr arbeiten zu müssen und neben dem Baum, an der Grenze zwischen Himmel und Erde, ein gemeinsames Haus zu bauen, wo wir friedlich das Leben genießen können. [… Hier sei] ›die Grenze zwischen Mensch und Gott, die Grenze zwischen Realität und Fantasie‹.« (199)
Der irakische Kurde Bachtyar Ali erzählt in seinem im Original 2002 erschienenen Roman Der letzte Granatapfel1 die Geschichte von der Welt letztem Granatapfelbaum aus der Sicht von Muzafari Subdham, der 21 Jahre in die Einsamkeit der Wüste verbannt war und seinen Sohn Saryasin noch nie gesehen hat. Nun macht er sich auf die Suche, obwohl man ihm gesagt hat, dass er bereits tot sei – gegen alle Widerstände und mit der Hoffnung des Verzweifelnden: »Wie ein zorniger Derwisch schrie ich: ›Aber ich habe die Erde unter den Füßen. Es gibt tausend Äcker, die mir Brot schenken, tausend Bäume, die mir Schutz bieten, tausend Stürme. Die mich davontragen. […] Es wird immer einen Baum geben, der mich beherbergt, ein Wasser, das mich aufnimmt, eine Höhle, die mich willkommen heißt. Nur auf dem Papier bin ich tot. Nur vor dem Gesetz, das die Welt beherrscht, bin ich ein Niemand. Wasser Vögel, Bäume erinnern sich an mich. Ich bin Teil dieses Universums. Am Weizen, der gerade wächst, habe ich Anteil. An dem Wasser, das auch die Würmer, die Stechmücken und die Wölfe ernährt, habe ich einen Anteil, an den Granatäpfeln, die gerade reifen und an jeder wachsenden Frucht. Ich bin nicht nackt. Es gibt etwas, das mich umhüllt und versteckt.‹« (78f)
Auf seiner Suche stößt er auf gleich drei Namensbrüder. Von dem ersten Saryasin, der bereits tot ist, erfährt er aus Erzählungen. Der zweite berichtet ihm über sein Leben auf in das Gefängnis geschmuggelten Kassetten. Nur dem dritten, dem »durchs Feuer« gegangenen Menschenwesen (342), begegnet er tatsächlich für einen Moment. Wer von den dreien sein leiblicher Sohn ist weiß er nicht, doch dass ist ihm auch nicht mehr wichtig. »Ich hatte jahrelang nur die Wüste vor Augen. Sie hat mich gelehrt, dass die Natur eine Einheit ist. Im unendlichen Sandmeer erkannte ich, dass wir alle, Menschen, Tiere und Gott gemeinsam in einer Phiole sitzen […], dass das gesamte Leben eins ist. […W]er nach einundzwanzig Jahren zurückkehrt, kann nicht zu jedem Einzelnen sagen: ›Dies ist dein Leben.‹ Er kann nur sagen: ›Es ist euer Leben. Es ist unser Leben. Es ist das Leben überhaupt …« Und dann setzt er zu einem modernen Ecce homo an: »Saryasi ist der Menschensohn. Ein Sohn Adams ohne Gottes Schutz, der auf dieser Erde verbrennt, dann aufersteht, verbannt wird und wieder zurückkehrt.« (279)
Jeder der drei Saryasins trug einen gläsernen Granatapfel bei sich – als »ein Symbol der Brüderlichkeit zwischen drei Menschen, die überleben und einander nicht verlieren«. Trotz einzelner Brüche gab es unter den Jugendlichen, die das Schicksal zusammengeführt hat und zu denen auch die geheimnisvollen zwei weißen Schwestern gehören, eine auf unverbrüchliche Versprechen gründende brüderliche Gemeinschaft. »In dem Moment verstand ich, dass diese Versprechungen der einzige Weg waren, um die Wüste, den Tod, das einander Verlieren und die großen Trennungen zu bannen.« (290) Ganz in diesem Geiste fasst er den Entschluss: »Ich werde mich ihnen zur Verfügung stellen und nichts weiter.« (329) Denn: »Der Mensch muss das tun, was sein Leben beseelt.« (339)
Während Stefan Andres in seiner Ode »Der Granatapfel«2 ein halbes Jahrhundert zuvor, unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges, noch mit dem Gefühl lebte, »Der Granatapfel, / Darin wir saßen, / Schimmernde Kerne: / Er barst. –«, bildet sich hier mitten im zermürbenden Elend von Bruderkriegen eine neue Keimzelle der Brüderlichkeit, eine »Phiole«, in der Menschen und Gott gemeinsam sitzen – wie in einer Arche, zusammengehalten durch den wüstenerfahrenen und immer wieder von Neuem suchenden Vater. Sie reicht über den Tod hinaus. – »Aber die zarten Jugendlichen waren im Innersten für den Tod bereit gewesen. Gehörte die Bereitschaft zum Sterben zur neuen Epoche? Mein Menschenbild brach in sich zusammen.« (172)
Auch das orientierungslos auf dem Meer treibende Boot, auf dem diese »Geschichte jener gläsernen jungen Männer, die in einem gläsernen Land und einer gläsernen Zeit lebten« (342) gegen die Verzweiflung an erzählt wird, ist eine solche Arche der Menschlichkeit: »Meine Freunde, die ihr so treulich zugehört habt, kommt, geben wir uns alle die Hand. Schauen wir auf die Wellen, auf denen wir vielleicht bis zu unserem Ende Kreise drehen werden. Seht hinauf, die Sterne beobachten uns von oben herab. All die Dinge gemeinsam tragen eine Melodie an unser Ohr. Alle sagen sie uns: Steht auf und haltet uns im Blick bis zuletzt. […] Ich werde nicht aufgeben. Auch wenn ich sterbe, ich bin mir sicher, dass etwas mein Echo in die Ferne trägt. Meine Stimme wird sich mit anderen Stimmen mischen. Meine Geschichte wird ans andere Ende des Ozeans hinübergetragen. Ein anderer Mensch wird meine Melodie hören, meine Chiffren entschlüsseln und sie an andere weitertragen. […] Hier bin ich, verloren auf dem Meer. Aus dem schwarzen Strudel des bodenlosen Wassers schreie ich: ›Saryasi Subdham, wo bist du? Wo bist du? Wo bist du?‹« (342ff)
Nachzutragen ist, dass in dieser Geschichte »der Welt letzter Granatapfelbaum« auf dem Bergesgipfel noch ein Spiegelbild in der Stadt hat, unter dem die beiden weißen Schwestern ihr mit ihrem eigenen Blut versiegeltes Treuegelöbnis vergraben haben: »bis zu ihrem Tod beieinanderzubleiben, die gleiche Kleidung zu tragen, sich niemals die Haare zu schneiden und gemeinsam das gleiche Lied zu singen«, was auch hieß, nie zu heiraten. (36f) Und an diesem Gelöbnis ist der liebende Mohamadi Glasherz buchstäblich zerbrochen.
So gibt es also »Zwei Granatapfelbäume, die alle Figuren dieser Geschichte miteinander verknüpfen«. An dem Spiegelbild entzündet sich eine tragische Geschichte mit weitreichenden Folgen für die jugendliche Gemeinschaft, die an dieser Stelle jedoch nicht weiter erzählt werden kann. Das Urbild auf dem Berge aber ist wie ein Tor ins Paradies: »Unter dem Granatapfelbaum bin ich in ein neues Leben eingetreten. Ich fand den Grund meines Lebens und das Ziel. Als ich vom Gipfel herunterstieg, erlebte ich die klarsten Momente meines Lebens. Nach einundzwanzig Jahren legte ich meine Hand auf jenes Geheimnis der großen Freiheit, die der Mensch erreicht, wenn er seinen Weg findet.« (302)
1Auf deutsch 2016 in Zürich erschienen, 2017 auch als Tb; 347 Seiten.
2In: Stefan Andres: Der Granatapfel. Oden – Gedichte – Sonette, München 1950