im Museum Wiesbaden, bis 23. Juni 2019
Stephan Stockmar
»Die Übersetzung oder Übertragung der Zeichnungen in einen größeren Maßstab und in die Malerei fand ich immer langweilig. Es hatte nichts Selbstverständliches, und ich dachte darüber nach, wie ich Zeichnung auf andere Weise übertragen könnte. Darum fing ich an Reliefs zu machen und an der Linie zu arbeiten – indem ich auf Schnüre und Kordeln zurückgriff […]. Ich übersetzte buchstäblich die Linie.«- Eva Hesse im Gespräch mit Cindy Nemser, 1970(1)
Das Werk der deutsch-amerikanischen Künstlerin Eva Hesse, im wesentlichen ab 1960 bis zu ihrem frühen Tod 1970, erst 34jährig, entstanden, wirkt erstaunlich gegenwärtig. Sie hat sich künstlerisch entwickelt, als in den USA die Minimal Art als Gegenbewegung zum Abstrakten Expressionismus entstand. Mit wichtigen Vertretern dieser neuen Richtung wie Sol LeWitt, Donald Judd, Carl Andre und Dan Flavin war sie teils eng befreundet; der wie ihre Familie aus Deutschland geflohene Bauhäusler Josef Albers war einer ihrer Lehrer. Doch hat sie bald ihren ganz eigenen Weg gefunden, der sich auch in ihren Zeichnungen widerspiegelt, die jetzt im Zentrum der von Jörg Daur verantwortlich kuratierten Wiesbadener Ausstellung stehen.(2) Die Leihgaben, zumeist aus dem Eva Hesse-Archiv des Allen Memorial Art Museum in Oberlin (Ohio, USA), werden ergänzt durch das beachtliche Ensemble von Gemälden, Skulpturen und auch Zeichnungen aus dem Besitz des Museum Wiesbaden selbst. Gezeigt wird das ganze Spektrum von frühen Studienblättern aus College-Zeiten bis hin zu Skizzen für konkrete Skulpturen.
Von der Malerei herkommend, hat Eva Hesse während ihres Deutschlandaufenthaltes 1964/65 zusammen mit ihrem Mann, dem Bildhauer Tom Doyle, das Relief und die Skulptur für sich entdeckt. Das Zeichnen hat sie aber nie aufgegeben. Wobei der Übergang zwischen Malerei, Zeichnung und Skulptur für sie ein fließender war: »Die Zeichnungen könnte man mit Fug und Recht Malerei nennen, und auch einige meiner Skulpturen könnten den Namen Malerei tragen.«(3) Der im Eingangszitat angesprochenen Übersetzungsvorgang der gezeichneten Linie in räumliche Gebilde lässt sich besonders schön an dem Wiesbadener Werk ›Metronomic Irregularity I‹ (1966) nachvollziehen: Zwei gleichgroße Spanplatten sind über einen Zwischenraum hinweg durch ein Geflecht von feinen, beweglichen Drähten miteinander verbunden. Die Ausgangs- bzw. Endpunkte der Drähte auf den Platten sind zwar rastermäßig angeordnet. Dazwischen findet aber eine heillose Verwirrung statt, so dass ein lebensnahes Beziehungsgeflecht entsteht. Es macht Spaß, einzelne Fäden auf ihrem Weg von hüben nach drüben zu verfolgen.
Die frühen, um 1960 herum entstandenen Tuschezeichnungen sind tatsächlich sehr malerisch. Sie zeigen zum Teil auch etwas dunkle Seiten. Doch schon bald entstehen Zeichnungen und Collagen, die von einer unglaublich lebendigen Experimentierlust zeugen. So entstehen Preziosen, in denen manches vom späteren Werk wie vorweggenommen erscheint: eine Vielfalt nebeneinander bestehender Formen, Wiederholungen und Variationen, grundrissartiger Strukturen; ein buntes Gemisch aus Linien, Flächen und räumlich wirkenden kastenförmigen Elementen, durchsetzt von Schnitten und Brüchen. Trotz des Chaotisch-Fragmentarischem fügen sie sich im Auge des Betrachters zu wirklichen Bilder, bedingt auch durch den oft großen Umraum, in dem sich das Leben der Linien, Flächen und Gebilde entfaltet. All dies findet sich auch auf dem großen, wie die meisten ihrer Werke titellosem Gemälde aus der Wiesbadener Sammlung aus dem Jahre 1964, eingebettet in einen leuchtend blauen Grund. Blau erscheint auch ihre Singnatur in einem Kästchen am unteren Rand.
Durch das Arbeiten in leerstehenden Räumen einer Industriespinnerei in Essen-Kettwig angeregt, tauchen dann auch surreal erscheinende Maschinenteile in den Zeichnungen und Bildern auf, manchmal kombiniert mit amorph-pflanzlich erscheinenden Gebilden. Oder es entstehen auf kariertem Papier akkurate Strukturen, die aber nie die Lebendigkeit einer Handzeichnung verlieren. Selbst diese Blätter zeigen noch die Lust am Spielerischen.
Schon früh arbeitet Hesse mit dem Moment der Wiederholung, Aneinanderreihung und des Rasters. Doch sind die Elemente nie standardisiert wie bei den meisten Minimalisten. Jedes hat seinen eigenen Charakter, auch bei den plastischen Arbeiten. So sind die einzelnen kastenartigen Hohlformen in der Arbeit ‹Sans – Nichts‹ individuell über einer Grundform abgegossen und dann zusammengefügt worden. Dadurch ist der Betrachter ganz anders mit einbezogen als bei den Boxen-Serien eines Donald Judd, wie sie im Obergeschoss des Museums zu sehen sind. Schon das von Eva Hesse verarbeitete Material – Fiberglas und Polyester – trägt Prozessuales an sich. Überhaupt spielen viele ihrer Werke mit dem Gegensatz von klar geordneten Strukturen und lebendigem Chaos.
In diesem Spannungsverhältnis von heiterem Ernst, spielerischer Strenge und spröder Zärtlichkeit, wie es besonders in der großen Wiesbadener Retrospektive im Jahre 2002 zu erleben war, ist auch Eva Hesses Leben verlaufen. In dem wenige Wochen vor ihrem Tod an einem immer wieder neu wachsenden Hirntumor von Cindy Nemser geführten Interview spricht sie mehrfach von der »totalen Absurdität des Lebens« – wie bei ihr »immer alles gegensätzlich« war. »Wie mein Lebenslauf zeigt, gab es in meinem Leben nie etwas Normales oder Mittelmäßiges. Es war immer extrem«. Sie habe »fürchterliche Angst« und »gigantische Kräfte« und konnte immer »Ordnung gegen Chaos, Faseriges gegen Masse, Riesengroßes gegen Kleines setzen«. Gleichzeitig empfand sie auch »ungeheures Glück«.(4)
Tatsächlich ist ihr Leben durch Chaos geprägt:(5) In Hamburg 1936 in eine jüdische Familie hineingeboren, gelangt sie im Dezember 1938 mit einem Kindertransport – zusammen mit ihrer älteren Schwester Helen – nach Holland. Drei Monate später kommen die Eltern nach und die Familie emigriert in die USA. Die Mutter leidet an schweren Depressionen, die Eltern trennen sich. Wenig später, kurz vor Hesses 10. Geburtstag begeht die Mutter Selbstmord. Nach erneuter Heirat des herzkranken Vaters, dessen Liebe zu ihr »fast inzestuöse Züge« hatte, trug die Stiefmutter, »die ich nicht ausstehen konnte«, den gleichen Namen wie das Kind: Eva Hesse; und auch sie erkrankte an einem Gehirntumor. Von Kindheit an war Eva Hesse von schweren Verlustängsten geplagt. Die 1961 geschlossene Ehe mit Tom Doyle ging schon Anfang 1966 in die Brüche. Noch im gleichen Jahr starb ihr Vater. »Ich glaube, darauf folgten zwei relativ glückliche Jahre.« In der Tat waren dies eine sehr produktive und von Erfolgen gekrönte Zeit. Eva Hesse hatte eine Einzelausstellung im Allen Memorial Art Museum in Oberlin, Ohio (›Recent Drawings‹, 1968) und nahm an vielen Gruppenausstellungen teil, auch in Europa, u.a. in Köln, London und 1969 in Bern, an Harald Szeemann legendärer Ausstellung ›Live in Your Head. When Attitudes Become Form‹.
Im März 1969 wurde dann ein Hirntumor festgestellt. Trotzdem arbeitete sie mit großer Energie weiter. Noch im Frühjahr 1970 hatte sie eine Einzelausstellung in der damals wichtigen New Yorker Fischbach Gallery. Nach insgesamt drei Operation starb Eva Hesse Ende Mai 1979. Das Guggenheim-Museum widmete ihr 1972 eine Gedächtnisausstellung.
In ihrer Zeit war das für eine Frau noch eine sehr ungewöhnliche Karriere, die jäh abbrach. Eva Hesse hat ein ausgeprägt weibliches Element in die damals fast rein männlich dominierte Kunstszene eingebracht, ohne sich jedoch als Feministin zu sehen. Diese Singularität und ihre besonderes Schicksal haben gelegentlich dazu verführt, ihre Kunst vor allem vor dem Hintergrund ihrer Lebensumstände anzuschauen. Wie sehr aber diese für sich selbst spricht, habe ich schon bei meiner Erstbegegnung mit ihr in der Wiesbadener Retrospektive von 2002 erlebt.
Gefragt nach dem Zusammenhang zwischen Material, Subjekt und Inhalt in ihren Arbeiten, sagt sie in dem bereits mehrfach zitierten Gespräch: »Wenn ich mit der Arbeit beginne, konzentriere ich mich ganz auf die abstrakten Eigenschaften, auf das Material, die Form, die eine Arbeit annimmt, auf die Größe, das Format, die Positionierung und die Ausrichtung im Raum. […] Aber die gesamte Erscheinung bewerte ich nicht nach abstrakten Gesichtspunkten. Für mich ist das ein Gesamteindruck, der mit mir und meinem Leben zu tun hat. Das kann man nicht aufspalten in Idee oder Komposition oder Form. Ich glaube nicht, dass auf so einer Grundlage Kunst hervorgebracht werden kann. Die entsteht dort, wo Kunst und Leben zusammentreffen.« Sie sei davon überzeugt, »dass nur die Kunst, die ein Künstler auf seine ganz persönliche Art und Weise macht und die er durch sich und für sich entdeckt hat, wirkliche Kunst ist.«
Dennoch habe ich nie den Eindruck, dass angesichts ihres Werkes die Person im Vordergrund steht. Durch die stets individuelle Bearbeitung des Materials entwickelt sie zu diesem eine große Nähe, steht mit ihm im Dialog, erfüllt es mit Leben. Und gerade diese Art von Lebensnähe – trotz aller Abstraktheit – macht wohl die eigentümlich ›Magie‹ von Eva Hesses Werk aus und ermöglicht auch die Nähe zum Betrachter.
›Eva Hesse. Zeichnungen‹, bis 23. Juni 2019 im Museum Wiesbaden, www.museum-wiesbaden.de. Die Publikation zur Ausstellung ›Eva Hesse – Unheimlich lustig‹ mit Beiträgen von Alexander Klar, Jörg Daur und Lea Schäfer (64 S., dt./en.) ist als MuWi-Buch erschienen und kostet 14,50 EUR.
Am 25. April, 18 Uhr, hält die Hesse-Spezialistin Renate Petzinger im Museum einen Vortrag: ›Zwischen Gemälde und Skulptur – Die Zeichnungen im Werk von Eva Hesse‹.
(1) Zitiert nach der Übertragung ins Deutsche von Annette Tietenberg, in: ›Eva Hesse‹. Katalog Museum Wiesbaden, 2002, S. 249-261.
(2) Jörg Daur hat über Eva Hesse promoviert. Seine Dissertation ist unter dem Titel ›Eva Hesse. Zwischen Anti-Form und Materialästhetik. Neue Formen und Materialien der Kunst um 1970‹ (Herzogenrath 2007) erschienen. Er setzt insofern die lange Jahre durch Renate Petzinger vertretene Eva-Hesse-Tradition im Wiesbadener Haus fort. Petzinger ist maßgeblich am Werkverzeichnis der Künstlerin beteiligt. Nach dem die Bände über Malerei und Skulptur 2006 erschienen sind (Yale University Press), arbeitet sie nun das sehr umfangreiche zeichnerische Werk auf.
(3) A.a.O.
(4) A.a.O., wie auch die folgenden Zitate.
(5) Vgl. auch Stephan Stockmar: ›»Eine Berührbare Frau« Zu Leben und Werk der Künstlerin Eva Hesse‹, in: ›die Drei‹ 5/2007, S. 53-58