»… als Steiner seine Schwingen zu entfalten begann«

Martina Maria Sam: ›Rudolf Steiner. Die Wiener Jahre 1884-1890‹, Verlag am Goetheanun, Dornach 2021, 536 Seiten, mit vielen Abb., 50 EUR

In Fortsetzung ihrer 2018 erschienenen dokumentarischen Biografie über Rudolf Steiners Kindheit und Jugend hat Martina Maria Sam, Eurythmistin, promovierte Geisteswissenschaftlerin, Vortragende und Publizistin sowie Herausgeberin im Rudolf Steiner Archiv, nun einen Band über Steiners Wiener Jahre nach Abschluss seiner Studienzeit vorgelegt. Dies war eine Zeit der Auseinandersetzung mit den vielfältigen zeitgenössischen Geistesströmungen und des Suchens nach der eigenen Lebensaufgabe, wobei die Beschäftigung mit Goethe sich wie ein roter Faden hindurch zieht – von der Herausgabe dessen naturwissenschaftlicher Schriften über die Ausarbeitung einer eigenen »Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung« bis hin zur Entdeckung des esoterischen Goethes in dessen Märchen Ende der 1880er Jahre.

Martina Maria Sam geht all diese Begegnungen und Themen ausführlich nach, sie so weitgehend wie möglich durch Briefe und Dokumente, Rezensionen, Erinnerungen der Beteiligten und biografische Angaben zu den einzelnen Persönlichkeiten dokumentierend.

Die ganze Besprechung finden Sie hier, die Besprechung des ersten Bandes hier.

Menschwerden mit dem Tier

Marica Bodrožić: Mystische Fauna. Von der Liebe der Tiere, Matthes & Seitz, Berlin 2023, 166 Seiten, 20 EUR

Um Tod und Leben, um neu zu erringende Freiheiten geht es in ›Mystische Fauna‹, und dabei spielt das Zusammenwirken mit Tieren eine Rolle. Das ist in Bodrožić’ Werk nicht ganz neu. So tragen die Seelenstenogramme ihrer Wanderung über die Pyrenäen auf den Spuren Walter Benjamins den Titel ›Die Arbeit der Vögel‹ (2022). Vögel begleiten im Roman ›Das Wasser unserer Träume‹ (2016) das langsame Erwachen des Protagonisten aus dem Koma in ein neues Leben hinein. In ihrem neuen Buch steht nun das unverhoffte Zusammenleben mit einem Hund auf der Insel La Gomera im Mittelpunkt. Dabei hütet die Autorin nicht nur den von ihr so getauften ›Inselito‹, sondern er begleitet sie auch beim Aufkeimen freud- wie leidvoller Erinnerungen aus Kindheit und Jugend. Er zeigte ihr einen »Weg in die Gegenwart, ins Jetzt der Zeit«. Mit ihm durchlebt sie noch einmal, wie ihr Großvater auf dem bäuerlichen Anwesen in Dalmatien im Jähzorn dem eigenen Hund ein Auge ausschlägt. »Da stehe doch ich an der Schwelle, sage ich mir, ich bin dort nicht unbekannt, es ist das Haus der Kindheit, da kenne ich mich und werde erkannt. Der Hund der Kindheit. Der liebste Mensch der Kindheit. Das Blut der Kindheit. Es ist Augenblut.«

Die ganze Besprechung hier.

Das Jahr 1977 und die Gegenwart

Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 502 Seiten, 32 EUR

1977? War da was besonderes? Vielleicht irgend etwas mit der RAF? – Viel mehr ist mir auf Anhieb gar nicht eingefallen. Ja doch, natürlich: die Charta 77 (wie schon der Name sagt). Und weiter ? – Es ist schon erstaunlich, was Philipp Sarasin alles in dieses Jahr verorten kann. Beim Lesen erinnerte ich mich dann bei einigem wieder: Ja genau, stimmt! Doch vieles war mir gar nicht (mehr) bewusst.

»Nur dass die allgemeine ›Stimmung‹ gedrückt war, passte ganz gut zu meiner jugendlichen Orientierungslosigkeit« (S. 7). So beschreibt der Autor seinen eigenen Bewusstseinszustand als Einundzwanzigjähriger im Jahr 1977. Dies trifft vermutlich für viele Menschen seiner und damit auch meiner Generation zu. Wohlbehütet aufgewachsen im Zeitalter des deutschen Wirtschaftswunders, drang die eigentliche Dramatik dieses Jahres damals nur sehr fragmentarisch in mein Bewusstsein. Erst jetzt, wo ich Sarasins Buch lese, wird mir deutlich, wie entscheidend dieses Jahr und das 1970er-Jahrzehnt für die gegenwärtige Weltsituation ist. Insofern lautet der Untertitel zurecht ›Eine kurze Geschichte der Gegenwart‹.

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»Im Spannungsfeld von Weltenkräften«

Ein neues Buch zum Motiv des Menschheitsrepräsentanten im künstlerischen Werk Rudolf Steiners

Mirela Faldey und David Hornemann v. Laer (Hg.): ›Im Spannungsfeld von Weltenkräften. Der Menschheitsrepräsentant in Rudolf Steiners Skulptur, Malerei und Glasradierung‹, Verlag am Goetheanum, Dornach 2020, 536 Seiten, mit zahlreichen z.T. farbigen Abbildungen, 78 EUR.

Es geht in dem von Mirela Falday und David Hornemann v. Laer herausgegebenen monumentalem Band um Rudolf Steiners künstlerische Darstellungen des »Menschheitsrepräsentanten« zwischen den antagonistisch wirkenden Wesen Luzifer und Ahriman. Dieses sogenannte »Mittelmotiv« hat er in dreifacher Form für den ersten Goetheanumbau in Dornach entworfen. Es wurde teilweise von ihm selbst, teilweise unter seiner Anleitung bzw. nach seinen Entwürfen ausgeführt: als neun Meter hohe Holzskulptur, die im Osten des kleinen Kuppelraumes hätte stehen sollen, als Malerei in der Kuppelwölbung direkt über diesem Standort und als Glasradierung im rosafarbenen Fenster der Nordseite des großen Kuppelraumes. Die nicht ganz vollendete Skulptur ist erhalten geblieben, weil sie zum Zeitpunkte des Brandes des aus Holz errichteten ersten Goetheanum in der Neujahrsnacht 1922/23 noch im Atelier stand. Die Malerei ist nur in Form von Fotos überliefert. Auch das dreiteilige Glasfenster wurde zerstört, doch nach den von Steiner entworfenen Motiven wurden für das zweite Goetheanum neue Fenster geschaffen, in der Form angepasst an die Gestaltung des Betonbaues.

Die Besprechung finden Sie hier

Zu dem Motiv des Menschheitsrepräsentanten  –Der Mensch zwischen Luzifer und Ahriman – hier

Marica Bodrožić: Pantherzeit

»Es ist jetzt die Zeit, in der alles neu wird und neu werden muss. Und ich, mein Körper und mein Denken bilden keine Ausnahme. Bevor etwas neu wird, muss das Alte in seiner Radikalität und Dunkelheit aufscheinen, es muss sich als Schatten zeigen. Wir werden Kraft brauchen, um das zu verstehen, was wir an Abgründigkeiten der Welt gegeben haben. Wir Menschen. Wir. Alle zusammen. Und jeder für sich. Ich weiß, dass der Schatten an mir schon Gefallen gefunden hat. Er wird nicht weichen. Er weiß, dass ich es jetzt weiß. Mein Unwissen kann mich nicht mehr vor seiner Beharrlichkeit schützen.«

Marica Bodrožić, aus: ›Pantherzeit. Vom Innenmaß der Dinge‹, Otto Müller Verlag Salzburg, 2021, S. 86; vgl. https://marica-bodrozic.de und https://www.omvs.at/buch/pantherzeit/

Das Buch ›Pantherzeit‹ von Marica Bodrožić zeugt von einem immerwährenden Selbst- und Weltgespräch, das in Zeiten der Pandemie an existenzieller Intensität gewinnt. Entstanden während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020, ist es gerade jetzt, während des nun schon lange  anhaltenden erneuten Lockdowns, besonders hilfreich, um den  immer größeren Herausforderung von innen her zu begegnen, vor die der Einzelne wie die Gesellschaft gestellt ist. Eine ausführliche Besprechung findet sich hier.

Wie das gesellschaftliche Corona-Experiment mir zum Selbstexperiment geworden ist, beschreibe ich hier.