Zitat des Monats – März/April 2022

»Den Krieg, das ist ja der Mars, den könnt ihr nicht abschaffen. Man kann ihn nur metamorphosieren. Man muss verstehen, die Kräfte vom äußeren in den inneren Krieg zu verlegen, also die Ichkräfte zu entwickeln und die ganze Sache als Kampf der Ideen auszubilden. Der Krieg verschwindet nicht, sondern er ist tatsächlich der Vater aller Dinge, jetzt aber als ichgeführte, kraftvolle ideenmäßige Auseinandersetzung mit dem Menschen, der eben ein anderes Prinzip hinstellt. Dann wird man sehen, wo wir gemeinsam den Krieg in der Welt – jetzt ist das ein ganz therapeutischer Krieg geworden – weiterführen können.Das ist m. E. Überhaupt das Grundlegende: dass man gar nicht davon ausgehen kann, dass es keine Gegensätze in der Welt gibt; denn die Gegensätze sind ja da, d. h. Der Krieg existiert, auch dann, wenn die Menschen immer wieder sagen: ›Wir wollen Frieden. Friedensforschung.‹ Das ist sogar genau das Falsche. Die Friedenseuphorie ist gar nicht der Weg, sondern der Weg ist, über den Krieg zu reden, also zu sagen: Setzt euch doch hin, ihr Krieger! Setzt euch doch an den großen runden Tisch, ihr alle mit euren ungeheuren Bärenkräften! Stellt die Kräfte mal heraus, aber jetzt nicht mit so einem dummen Ding, mit einer Maschinenpistole, sondern: Du stellst diese Idee hier hin, und du stellst sie auch hin! Dann wollen wir sehen, wo sich die Wege überschneiden, wo man gemeinsam gegen den eigentlichen Gegner gehen kann; denn der eigentliche Gegner ist ja vorhanden. Das ist doch klar. Aber der Gegner kann heute nicht mehr unter den Menschen gefunden werden.«

Joseph Beuys im Gespräch mit Rainer Rappmann am 14.11.1975, in: Volker Harlan, Rainer Rappmann, Peter Schata: ›Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys‹, Achberg 1984, S. 42.

 

»Das gehört mit in den Bereich einer permanenten Konferenz. Es ist ein alchemistisches Modell, das auf die Kreuzigung Christi zurückgeht, eigentlich auf Joseph von Arimathia. Die Idee des Grales ist, dass das Blut Christi aufgefangen und transsubstantiiert wird. Der Legende nach kommt es in den Mittelpunkt der Tafelrunde des Königs Arthus. Der kleine Gral im großen ist also eigentlich das Sinnbild für das Individuum in der Gesellschaft. Die Arthusrunde soll auf die permanente Konferenz erweitert werden. Der Mikrokosmos wird zum Makrokosmos.«

Joseph Beuys im Gespräch mit Antje von Graevenitz 1982 über eine Tafelzeichnung von ihm von 1977, auf der ein doppelter Kelch zu sehen ist, in: Antje von Graevenitz: ›Erlösungskunst oder Befreiungspolitik: Wagner und Beuys‹, in: Gabriele Förg (Hrsg.): ›Unser Wagner: Joseph Beuys, Heiner Müller, Karlheinz Stockhausen, Hans Jürgen Syberberg‹,
Frankfurt am Main 1984, S. 11-49, dort S. 19.

Objekt von Stephan Stockmar

Bitte

von Hilde Domin

Wir werden eingetaucht
und mit den Wassern der Sintflut gewaschen
wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht

Es taugt die Bitte
daß bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
daß die Frucht so bunt wie die Blume sei
daß noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden

und daß wir aus der Flut
daß wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.

Aus: Hilde Domin, Sämtliche Gedichte, Frankfurt am Main 2016 (S. Fischer Verlag), S. 181f

Menschwerden mit dem Tier

Marica Bodrožić: Mystische Fauna. Von der Liebe der Tiere, Matthes & Seitz, Berlin 2023, 166 Seiten, 20 EUR

Um Tod und Leben, um neu zu erringende Freiheiten geht es in ›Mystische Fauna‹, und dabei spielt das Zusammenwirken mit Tieren eine Rolle. Das ist in Bodrožić’ Werk nicht ganz neu. So tragen die Seelenstenogramme ihrer Wanderung über die Pyrenäen auf den Spuren Walter Benjamins den Titel ›Die Arbeit der Vögel‹ (2022). Vögel begleiten im Roman ›Das Wasser unserer Träume‹ (2016) das langsame Erwachen des Protagonisten aus dem Koma in ein neues Leben hinein. In ihrem neuen Buch steht nun das unverhoffte Zusammenleben mit einem Hund auf der Insel La Gomera im Mittelpunkt. Dabei hütet die Autorin nicht nur den von ihr so getauften ›Inselito‹, sondern er begleitet sie auch beim Aufkeimen freud- wie leidvoller Erinnerungen aus Kindheit und Jugend. Er zeigte ihr einen »Weg in die Gegenwart, ins Jetzt der Zeit«. Mit ihm durchlebt sie noch einmal, wie ihr Großvater auf dem bäuerlichen Anwesen in Dalmatien im Jähzorn dem eigenen Hund ein Auge ausschlägt. »Da stehe doch ich an der Schwelle, sage ich mir, ich bin dort nicht unbekannt, es ist das Haus der Kindheit, da kenne ich mich und werde erkannt. Der Hund der Kindheit. Der liebste Mensch der Kindheit. Das Blut der Kindheit. Es ist Augenblut.«

Die ganze Besprechung hier.

Das Jahr 1977 und die Gegenwart

Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 502 Seiten, 32 EUR

1977? War da was besonderes? Vielleicht irgend etwas mit der RAF? – Viel mehr ist mir auf Anhieb gar nicht eingefallen. Ja doch, natürlich: die Charta 77 (wie schon der Name sagt). Und weiter ? – Es ist schon erstaunlich, was Philipp Sarasin alles in dieses Jahr verorten kann. Beim Lesen erinnerte ich mich dann bei einigem wieder: Ja genau, stimmt! Doch vieles war mir gar nicht (mehr) bewusst.

»Nur dass die allgemeine ›Stimmung‹ gedrückt war, passte ganz gut zu meiner jugendlichen Orientierungslosigkeit« (S. 7). So beschreibt der Autor seinen eigenen Bewusstseinszustand als Einundzwanzigjähriger im Jahr 1977. Dies trifft vermutlich für viele Menschen seiner und damit auch meiner Generation zu. Wohlbehütet aufgewachsen im Zeitalter des deutschen Wirtschaftswunders, drang die eigentliche Dramatik dieses Jahres damals nur sehr fragmentarisch in mein Bewusstsein. Erst jetzt, wo ich Sarasins Buch lese, wird mir deutlich, wie entscheidend dieses Jahr und das 1970er-Jahrzehnt für die gegenwärtige Weltsituation ist. Insofern lautet der Untertitel zurecht ›Eine kurze Geschichte der Gegenwart‹.

Die ganze Besprechung finden Sie hier.

Beiträge zu Joseph Beuys

Nicht nur im Jahr des 100. Geburtstages von Joseph Beuys habe ich mich intensiv mit diesem Ausnahmekünstler beschäftigt, und werde das auch weiterhin tun – siehe hier.

Hier meine bisherigen, meist veröffentlichten Texte zu Joseph Beuys:

Kompass Beuys – Werke aus der Sammlung Rinn (Rezension)

Beuys und das Unsichtbare (Rezensionen)

Bericht Beuys-Symposion Goetheanum Mai 2022/Feuerstätte

Durch die Todeszone hindurch

»Joseph Beuys m Goetheanum« – und nicht nur dort. Zur Beuys-Rezeption in zwei anthroposophischen Zeitschriften

Joseph Beuys als Raumkurator in Stuttgart

Joseph Beuys und Wilhelm Lehmbruck – zwei Ausstellungen

Volker Harlan: »Mit Beuys Evolution denken« – Buchbesprechung

Kraftwerk Block Beuys

Zitat des Monats – Dezember 2021

Bitte

von Hilde Domin

Wir werden eingetaucht
und mit den Wassern der Sintflut gewaschen
wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht

Es taugt die Bitte
daß bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
daß die Frucht so bunt wie die Blume sei
daß noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden

und daß wir aus der Flut
daß wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.

Aus: Hilde Domin, Sämtliche Gedichte, Frankfurt am Main 2016 (S. Fischer Verlag), S. 181f

Mit diesem Gedicht wünsche ich allen besinnliche Adventstage, eine lichtvolle Weihnachtszeit und ein inneren wie äußeren Frieden bringendes Neues Jahr!

Stephan Stockmar

Beiträge zum Beuys-Jahr 2021

Im Jahr des 100. Geburtstages von Joseph Beuys habe ich mich intensiv mit diesem Ausnahmekünstler beschäftigt und werde das auch weiterhin tun – siehe hier.

Hier meine bisherigen, meist veröffentlichten Texte zu Joseph Beuys:

Durch die Todeszone hindurch

»Joseph Beuys m Goetheanum« – und nicht nur dort. Zur Beuys-Rezeption in zwei anthroposophischen Zeitschriften

Joseph Beuys als Raumkurator in Stuttgart

Joseph Beuys und Wilhelm Lehmbruck – zwei Ausstellungen

Volker Harlan: »Mit Beuys Evolution denken« – Buchbesprechung

Kraftwerk Block Beuys

Zitat des Monats – Juni 2021

»[…] weil ich meinte, dass diese Dinge, die das Weltall verändern, in unser Bewusstsein gehören, dass man sie hervorheben müsse, denn unterhalb dieses Anspruchs kann man gar nicht bleiben. Aber wenn man so etwas will, dann muss man natürlich auch dafür sorgen, dass diese Dinge leben und wirklich etwas von ihnen ausstrahlt. Man darf sich nicht im geringsten auf formale und stilistische Kriterien einlassen, sondern nur auf das Lebensprinzip der Sache als lebendigem Stoff.
Wenn es nicht in den lebendigen Stoff geht, zerstört sich das Ding selbst.
[…]
Ich will damit nur sagen, dass dieses selbstverändernde Prinzip als Ingredienz, als Stoff, man kann auch sagen als dynamische Medizin, für mich entscheidend gewesen ist.

Joseph Beuys 1979«

Der handschriftliche Text beginnt mit einem Hinweis auf James Joyce: »Ja, es gibt eine Parallelität, und ich habe mich auf Joyce bezogen […]« (es folgt obiger Text). Er wurde 1984 als Multiple ›James Joyce‹ vervielfältigt.

Hinweise auf Ausstellungen anlässlich des 100. Geburtstages von Joseph Beuys am 12. Mai 2021 finden Sie hier:

Nordrhein-Westfalen (verschiedene Orte)
Berlin, Hamburger Bahnhof
Darmstadt, Hessisches Landesmuseum

Besprechung des Buches von Volker Harlan: Mit Beuys Evolution denken, München 2020
Hier ein Artikel zum »Kraftwerk Block Beuys«

Die Museen öffnen wieder! Im Museum Wiesbaden ist die Ausstellung

August Macke: Paradies! Paradies?

die 3 Tage nach der Eröffnung Ende Oktober wieder geschlossen werden musste, nun noch bis zum 9. Mai 2021 zu sehen. Mackes Bilder wirken einfach wohltuend auf das gerade so strapazierte Gemüt.

»[B]ei mir ist das Arbeiten ein Durchfreuen der Natur, der Sonnenglut und der Bäume, Sträucher, Menschen, Tiere, Blumen und Töpfe, Tische und Stühle, Berge, Wasser beschienenen Werdens.« – Brief von August Macke an Hans Thuar vom 7. März 1910

Hier meine Besprechung der Ausstellung.

https://museum-wiesbaden.de/de/august-macke

 

»Im Spannungsfeld von Weltenkräften«

Ein neues Buch zum Motiv des Menschheitsrepräsentanten im künstlerischen Werk Rudolf Steiners

Mirela Faldey und David Hornemann v. Laer (Hg.): ›Im Spannungsfeld von Weltenkräften. Der Menschheitsrepräsentant in Rudolf Steiners Skulptur, Malerei und Glasradierung‹, Verlag am Goetheanum, Dornach 2020, 536 Seiten, mit zahlreichen z.T. farbigen Abbildungen, 78 EUR.

Es geht in dem von Mirela Falday und David Hornemann v. Laer herausgegebenen monumentalem Band um Rudolf Steiners künstlerische Darstellungen des »Menschheitsrepräsentanten« zwischen den antagonistisch wirkenden Wesen Luzifer und Ahriman. Dieses sogenannte »Mittelmotiv« hat er in dreifacher Form für den ersten Goetheanumbau in Dornach entworfen. Es wurde teilweise von ihm selbst, teilweise unter seiner Anleitung bzw. nach seinen Entwürfen ausgeführt: als neun Meter hohe Holzskulptur, die im Osten des kleinen Kuppelraumes hätte stehen sollen, als Malerei in der Kuppelwölbung direkt über diesem Standort und als Glasradierung im rosafarbenen Fenster der Nordseite des großen Kuppelraumes. Die nicht ganz vollendete Skulptur ist erhalten geblieben, weil sie zum Zeitpunkte des Brandes des aus Holz errichteten ersten Goetheanum in der Neujahrsnacht 1922/23 noch im Atelier stand. Die Malerei ist nur in Form von Fotos überliefert. Auch das dreiteilige Glasfenster wurde zerstört, doch nach den von Steiner entworfenen Motiven wurden für das zweite Goetheanum neue Fenster geschaffen, in der Form angepasst an die Gestaltung des Betonbaues.

Die Besprechung finden Sie hier

Zu dem Motiv des Menschheitsrepräsentanten  –Der Mensch zwischen Luzifer und Ahriman – hier

Marica Bodrožić: Pantherzeit

»Es ist jetzt die Zeit, in der alles neu wird und neu werden muss. Und ich, mein Körper und mein Denken bilden keine Ausnahme. Bevor etwas neu wird, muss das Alte in seiner Radikalität und Dunkelheit aufscheinen, es muss sich als Schatten zeigen. Wir werden Kraft brauchen, um das zu verstehen, was wir an Abgründigkeiten der Welt gegeben haben. Wir Menschen. Wir. Alle zusammen. Und jeder für sich. Ich weiß, dass der Schatten an mir schon Gefallen gefunden hat. Er wird nicht weichen. Er weiß, dass ich es jetzt weiß. Mein Unwissen kann mich nicht mehr vor seiner Beharrlichkeit schützen.«

Marica Bodrožić, aus: ›Pantherzeit. Vom Innenmaß der Dinge‹, Otto Müller Verlag Salzburg, 2021, S. 86; vgl. https://marica-bodrozic.de und https://www.omvs.at/buch/pantherzeit/

Das Buch ›Pantherzeit‹ von Marica Bodrožić zeugt von einem immerwährenden Selbst- und Weltgespräch, das in Zeiten der Pandemie an existenzieller Intensität gewinnt. Entstanden während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020, ist es gerade jetzt, während des nun schon lange  anhaltenden erneuten Lockdowns, besonders hilfreich, um den  immer größeren Herausforderung von innen her zu begegnen, vor die der Einzelne wie die Gesellschaft gestellt ist. Eine ausführliche Besprechung findet sich hier.

Wie das gesellschaftliche Corona-Experiment mir zum Selbstexperiment geworden ist, beschreibe ich hier.

 

Stanislaus Stückgold in Kronberg

Bilder für gestirngläubige Seelen

Stanislaus Stückgold in der Galerie Uwe Opper in Kronberg

»Schaffen ist Erlebnis zum Können geworden. Dazu ist zweierlei notwendig. Erstens: Selbstdisziplin. Zweitens: Gnade. Man soll jeden Augenblick bereit sein, sich auszulöschen, um das Wesenhafte der Umwelt aufzunehmen. Man muss aktiv und passiv sein können.« – Stanislaus Stückgold, 1917

Betritt man die Galerie von Uwe Opper in den historischen Räumen der (nie geweihten) Streitkirche in dem Städtchen Kronberg am Taunusrand, so ist der Eindruck überwältigend: An roten Wänden hängen stark farbige, z.T. großformatige Bilder mit menschlichen Figuren, Blumen oder geheimnisvollen Arabesken auf blauem Grund. Sie wirken mit ihren klaren Farben und einfachen Formen monumental und zart zugleich, sind Ausdruck von Sinnlichkeit ebenso wie von Askese, von Sehnsucht wie von Erfüllung, und zeugen von einer tiefen jüdisch-christlichen Religiosität. Wie aus der Zeit gefallen und doch nicht unzeitgemäß.

Wiederkehrende Motive sind eine weißhaarige und großkopfige Mosesgestalt, der Jesusknabe, Mutter/Maria mit Kind, der Gekreuzigte und Paradiesszenen. Dazu kommen ausdrucksstarke Prophetenköpfe, Porträts und Selbstbildnisse sowie – ein besonderes Kapitel im Schaffen des Künstlers Stanislas Stückgold (1868-1933) – die im Wortsinne phantastischen Tierkreisbilder (Pastelle): Arabesken aus Tier- und Menschengestalten, Mischwesen, pflanzlichen Formen, Sonnen, Monden und Sternen, die sich wie Imaginationen aus dem meist tiefblauen Grund herauslösen. Laut Albert Steffen nannte Stückgold Blau die Mutter aller Farben.

Vollständige Besprechung hier

Gemälde und Bilder aus dem Tierkreiszyklus: bis 25.10.2020; Öffnungszeiten: Di-Fr 10-12 und 15-18 Uhr, Sa 11-13 Uhr, So 11-17 Uhr. Galerie Uwe Opper, Tanzhausstr. 1 (Streitkirche), 61476 Kronberg am Taunus, www.galerie-opper.de

Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin« im Museum Wiesbaden

Wie kommt das Geistige in die Kunst?
Zur Ausstellung »Lebensmenschen. Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin« im Museum Wiesbaden

Stephan Stockmar

»Ich liebe alles, was nicht ist, in denen, die um mich sind und in dem, was ich bin und in dem, was ich mit allen meinen Sinnen spüre« – Marianne von Werefkin, 16. Juli 19021

Den Auftakt zur Ausstellung bilden zwei Selbstbildnisse. Das von Marianne von Werefkin (1910) ist im Münchner Lenbachhaus, der ersten Station dieser Ausstellung zuhause, das von Alexej Jawlensky (1912) im Museum Wiesbaden, wo die Ausstellung nun bis zum 12. Juli 2020 zu sehen ist und von wo aus sie auch durch Roman Zieglgänsberger konzipiert wurde.

Beide Bildnisse sind von kräftiger Farbigkeit aus durchaus ähnlichen Paletten. Und beide haben nicht nur den akademischen Naturalismus des 19. Jahrhunderts hinter sich gelassen, sondern repräsentieren bereits vollgültig die gerade sich entwickelnde expressionistische Malweise. Doch damit enden auch schon die Gemeinsamkeiten. Marianne von Werefkins ›behüteter‹ Kopf auf gestrecktem Hals schaut den Betrachter aus glühend roten Augen an. Während Alexej von Jawlenskys dunkle Augen in dem runden, fast kahlen Schädel, der mit kurzem dicken Hals dem Rumpf aufsitzt, prüfend auf den gerichtet erscheinen, der gerade malt – auf sich selbst. Er bleibt bei sich und scheint zu sagen »Ich und die Farben sind eins«.

Bei Werefkin sind Gesicht und Hals noch deutlich durch die Licht und Schatten folgende Farbigkeit modelliert. Die Farben auf Jawlenskys Gesicht dagegen bewegen sich frei und verleihen ihm trotz des deutlichen Volumens eine flächige Wirkung. Werefkin zeigt sich als Intellektuelle, die wirken will, Jawlensky als sinnlicher Gemütsmensch.

So kommt gleich zu Beginn die große Unterschiedlichkeit der beiden aus Russland stammenden Künstlerpersönlichkeiten zum Tragen, die über 29 Jahre auf symbiotische und zugleich problematische Art und Weise miteinander verbunden waren und sich auch nach der endgültigen Trennung künstlerisch einander verpflichtet wussten. Die Wiesbadener Ausstellung macht über 15 Räume hinweg ihre künstlerische wie lebensmäßige Verflechtung auf eindrucksvolle Weise anschau- und nachvollziehbar.

›Lebensmenschen. Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin‹. Ausstellung im Museum Wiesbaden bis 12.7.2020, www.museum-wiesbaden.de/lebensmenschen

Die vollständige Besprechung der Ausstellung hier