Normannen in Mannheim – im Zeichen des Michael

Die Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen zeigen bis zum 26. Februar 2023 in einer großen, reich bestückten Ausstellung die mit den Normannen verbundene Kulturentwicklung Europas über rund 400 Jahre hinweg – von den oft brutalen Überfallen der Wikinger auf Klöster in England Ende des 8. Jahrhunderts bis hin zum christlichen Gottesgnadentum des wissenschaftsaffinen Staufer-Kaisers Friedrich II (1194-1250) mit seinem Königreich in Sizilien.

In sieben Kapiteln wird eine »Geschichte von Mobilität, Eroberung und Innovation« dokumentiert, die ganz Europa umfasst: vom Ausgangspunkt der »Nordmänner« in Skandinavien über die Gründung des Kiewer Rus im Osten, ihre Etablierung in der Normandie bis zur Eroberung Eroberung Englands. Dann führten ihre Wege weiter auf die iberische Halbinsel, nach Süditalien und Sizilien, in die Auseinandersetzung mit Byzanz und mittels Kreuzzüge ins Heilige Land. Schließlich wurde Antiochia zum normannischen Prinzipiat, und auch in Nordafrika versuchten die Normannen Fuß zufassen.

Aus allen Phasen und Regionen sind hervorragende Stücke zu sehen – Stelen, Urkunden, kostbare illustrierte Handschriften, Bildtafeln, Kleinkunst, Schmuck, Waffen und Alltagsgegenstände, so dass die Ausstellung vielfältige Einblick in die Lebenswelt der Normannen und somit in das Denken, die Gefühlswelt und das Handeln eines wichtigen Abschnittes des europäischen Mittelelters ermöglicht.

Das Michael-Heiligtum vom Monte Gragano

Dabei spielt der Erzengel Michael eine nicht unbedeutende Rolle und ist auch in herausragenden Stücken in der Ausstellung präsent: Allen voran die Michael-Ikone vom Monte Gargano (vergoldetes Kupfer, 11. Jahrhundert oder früher).

Auch eine katalonische Altartafel aus dem 13. Jahrhundert mit Erzengeln bezieht sich in einem Bildfeld auf die Ereignisse am Monte Gargano – auf die Gründungs-Legende des dortigen Heiligtums: Dem Bauern Gargano war ein Stier entlaufen, den er dann an einem Höhleneingang im heutigen Gargano-Gebirge sichtete. Als er ihn aus Ärger erschießen wollte, flog der Pfeil auf ihn zurück und traf ihm ins Auge. Als er dieses Wunder dem Bischof erzählte, hatte dieser die Vision, dass sich der Erzengel Michael diese Höhle – wo vermutlich früher Mithraskulte abgehalten worden waren; darauf deutet der Stier – zur Wohnstätte erkoren hatte. So entstand das Michael-Heiligtum auf dem Monte Gargano als eine der bedeutendsten Pilgerstätten des Mittelalters.

Die Komposition dieser Altartafel mit Bildfeldern ist eindrücklich: Über dem Seelen wägenden Michael die von Raphael und Gabriel in Empfang genommene reine Seele, die jetzt selbst den Mittelpunkt einer Art Waage bildet. Und dann die »Selbstrichtung« des Gargano unter Michael mit dem Drachen.

Oben: Erzengel Michaels, Vergoldetes Kupfer, 11. Jh.. Santuario di San Michele Arcangelo, Musei Tecum – Museo devozionale., © Proprietà della Basilica – Santuario di San Michele, Monte Sant’Angelo

Unten: Altartafel mit Darstellung von Erzengeln und der Gargano-Legende , 2. Viertel 13. Jh.. Barcelona, Museu Nacional d’Art de Catalunya © Museu Nacional d’Art de Catalunya, Barcelona

Die Normannen. Eine Geschichte von Mobilität, Eroberung und Innovation, Reiss-Engelhorn Museen Mannheim(Zeughaus), bis 26. Februar 2023

Die Museen öffnen wieder! Im Museum Wiesbaden ist die Ausstellung

August Macke: Paradies! Paradies?

die 3 Tage nach der Eröffnung Ende Oktober wieder geschlossen werden musste, nun noch bis zum 9. Mai 2021 zu sehen. Mackes Bilder wirken einfach wohltuend auf das gerade so strapazierte Gemüt.

»[B]ei mir ist das Arbeiten ein Durchfreuen der Natur, der Sonnenglut und der Bäume, Sträucher, Menschen, Tiere, Blumen und Töpfe, Tische und Stühle, Berge, Wasser beschienenen Werdens.« – Brief von August Macke an Hans Thuar vom 7. März 1910

Hier meine Besprechung der Ausstellung.

https://museum-wiesbaden.de/de/august-macke

 

Stanislaus Stückgold in Kronberg

Bilder für gestirngläubige Seelen

Stanislaus Stückgold in der Galerie Uwe Opper in Kronberg

»Schaffen ist Erlebnis zum Können geworden. Dazu ist zweierlei notwendig. Erstens: Selbstdisziplin. Zweitens: Gnade. Man soll jeden Augenblick bereit sein, sich auszulöschen, um das Wesenhafte der Umwelt aufzunehmen. Man muss aktiv und passiv sein können.« – Stanislaus Stückgold, 1917

Betritt man die Galerie von Uwe Opper in den historischen Räumen der (nie geweihten) Streitkirche in dem Städtchen Kronberg am Taunusrand, so ist der Eindruck überwältigend: An roten Wänden hängen stark farbige, z.T. großformatige Bilder mit menschlichen Figuren, Blumen oder geheimnisvollen Arabesken auf blauem Grund. Sie wirken mit ihren klaren Farben und einfachen Formen monumental und zart zugleich, sind Ausdruck von Sinnlichkeit ebenso wie von Askese, von Sehnsucht wie von Erfüllung, und zeugen von einer tiefen jüdisch-christlichen Religiosität. Wie aus der Zeit gefallen und doch nicht unzeitgemäß.

Wiederkehrende Motive sind eine weißhaarige und großkopfige Mosesgestalt, der Jesusknabe, Mutter/Maria mit Kind, der Gekreuzigte und Paradiesszenen. Dazu kommen ausdrucksstarke Prophetenköpfe, Porträts und Selbstbildnisse sowie – ein besonderes Kapitel im Schaffen des Künstlers Stanislas Stückgold (1868-1933) – die im Wortsinne phantastischen Tierkreisbilder (Pastelle): Arabesken aus Tier- und Menschengestalten, Mischwesen, pflanzlichen Formen, Sonnen, Monden und Sternen, die sich wie Imaginationen aus dem meist tiefblauen Grund herauslösen. Laut Albert Steffen nannte Stückgold Blau die Mutter aller Farben.

Vollständige Besprechung hier

Gemälde und Bilder aus dem Tierkreiszyklus: bis 25.10.2020; Öffnungszeiten: Di-Fr 10-12 und 15-18 Uhr, Sa 11-13 Uhr, So 11-17 Uhr. Galerie Uwe Opper, Tanzhausstr. 1 (Streitkirche), 61476 Kronberg am Taunus, www.galerie-opper.de

Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin« im Museum Wiesbaden

Wie kommt das Geistige in die Kunst?
Zur Ausstellung »Lebensmenschen. Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin« im Museum Wiesbaden

Stephan Stockmar

»Ich liebe alles, was nicht ist, in denen, die um mich sind und in dem, was ich bin und in dem, was ich mit allen meinen Sinnen spüre« – Marianne von Werefkin, 16. Juli 19021

Den Auftakt zur Ausstellung bilden zwei Selbstbildnisse. Das von Marianne von Werefkin (1910) ist im Münchner Lenbachhaus, der ersten Station dieser Ausstellung zuhause, das von Alexej Jawlensky (1912) im Museum Wiesbaden, wo die Ausstellung nun bis zum 12. Juli 2020 zu sehen ist und von wo aus sie auch durch Roman Zieglgänsberger konzipiert wurde.

Beide Bildnisse sind von kräftiger Farbigkeit aus durchaus ähnlichen Paletten. Und beide haben nicht nur den akademischen Naturalismus des 19. Jahrhunderts hinter sich gelassen, sondern repräsentieren bereits vollgültig die gerade sich entwickelnde expressionistische Malweise. Doch damit enden auch schon die Gemeinsamkeiten. Marianne von Werefkins ›behüteter‹ Kopf auf gestrecktem Hals schaut den Betrachter aus glühend roten Augen an. Während Alexej von Jawlenskys dunkle Augen in dem runden, fast kahlen Schädel, der mit kurzem dicken Hals dem Rumpf aufsitzt, prüfend auf den gerichtet erscheinen, der gerade malt – auf sich selbst. Er bleibt bei sich und scheint zu sagen »Ich und die Farben sind eins«.

Bei Werefkin sind Gesicht und Hals noch deutlich durch die Licht und Schatten folgende Farbigkeit modelliert. Die Farben auf Jawlenskys Gesicht dagegen bewegen sich frei und verleihen ihm trotz des deutlichen Volumens eine flächige Wirkung. Werefkin zeigt sich als Intellektuelle, die wirken will, Jawlensky als sinnlicher Gemütsmensch.

So kommt gleich zu Beginn die große Unterschiedlichkeit der beiden aus Russland stammenden Künstlerpersönlichkeiten zum Tragen, die über 29 Jahre auf symbiotische und zugleich problematische Art und Weise miteinander verbunden waren und sich auch nach der endgültigen Trennung künstlerisch einander verpflichtet wussten. Die Wiesbadener Ausstellung macht über 15 Räume hinweg ihre künstlerische wie lebensmäßige Verflechtung auf eindrucksvolle Weise anschau- und nachvollziehbar.

›Lebensmenschen. Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin‹. Ausstellung im Museum Wiesbaden bis 12.7.2020, www.museum-wiesbaden.de/lebensmenschen

Die vollständige Besprechung der Ausstellung hier

50 Jahre Kraftwerk Block Beuys in Darmstadt

In Bewegung zwischen Chaos und Ordnung:
50 Jahre Kraftwerk Block Beuys in Darmstadt

Stephan Stockmar

«Bewegte Skulptur kann sich für mich nur in einer Aktion realisieren – in einer Aktion, wo sie durch jene Grundstrukturen eines chaotischen Anfangs, der Bewegung durch die Mitte und endend in der Form erklärt wird. Dies geschieht in einer direkten oder einer noch einmal zurück in das Chaos gewendeten Bewegung, um im nächsten Moment wieder umzukehren.»

Joseph Beuys im Gespräch mit Richard Hamilton, in: Eva, Wenzel und Jessyka Beuys: Joseph Beuys Block Beuys (gekürzte Sonderausgabe), München 1997, S. 8.

Das Hessische Landesmuseum Darmstadt feiert 50 Jahre nach dessen Einrichtung den «Block Beuys» als ein Kraftwerk: Im April 1970 hat der Künstler selbst dort Schlüsselwerke und zahlreiche Objekte aus seinen vielen Aktionen in sieben Räumen inszeniert – als eine Art Wunderkammer in dem vor 200 Jahren begründeten Universalmuseum, das neben kunst- und kulturgeschichtlichen Sammlungen auch solche zur Naturgeschichte umfasst. Genau um diesen Kontext geht es Beuys: nicht Kunst um ihrer selbst willen, sondern in Verbindung zum Leben und seiner Geschichte. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind für ihn ebenso Grundlage seines Schaffens wie spirituellen Erfahrungen an den Grenzen des Lebens.

Kraftwerk Block Beuys, bis 20. September 2020 im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, www.hlmd.de.

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»Ordnung gegen Chaos«: Eva Hesses Zeichnungen

im Museum Wiesbaden, bis 23. Juni 2019
Stephan Stockmar

»Die Übersetzung oder Übertragung der Zeichnungen in einen größeren Maßstab und in die Malerei fand ich immer langweilig. Es hatte nichts Selbstverständliches, und ich dachte darüber nach, wie ich Zeichnung auf andere Weise übertragen könnte. Darum fing ich an Reliefs zu machen und an der Linie zu arbeiten – indem ich auf Schnüre und Kordeln zurückgriff […]. Ich übersetzte buchstäblich die Linie.«- Eva Hesse im Gespräch mit Cindy Nemser, 1970(1)

Das Werk der deutsch-amerikanischen Künstlerin Eva Hesse, im wesentlichen ab 1960 bis zu ihrem frühen Tod 1970, erst 34jährig, entstanden, wirkt erstaunlich gegenwärtig. Sie hat sich künstlerisch entwickelt, als in den USA die Minimal Art als Gegenbewegung zum Abstrakten Expressionismus entstand. Mit wichtigen Vertretern dieser neuen Richtung wie Sol LeWitt, Donald Judd, Carl Andre und Dan Flavin war sie teils eng befreundet; der wie ihre Familie aus Deutschland geflohene Bauhäusler Josef Albers war einer ihrer Lehrer. Doch hat sie bald ihren ganz eigenen Weg gefunden, der sich auch in ihren Zeichnungen widerspiegelt, die jetzt im Zentrum der von Jörg Daur verantwortlich kuratierten Wiesbadener Ausstellung stehen.(2) Die Leihgaben, zumeist aus dem Eva Hesse-Archiv des Allen Memorial Art Museum in Oberlin (Ohio, USA), werden ergänzt durch das beachtliche Ensemble von Gemälden, Skulpturen und auch Zeichnungen aus dem Besitz des Museum Wiesbaden selbst. Gezeigt wird das ganze Spektrum von frühen Studienblättern aus College-Zeiten bis hin zu Skizzen für konkrete Skulpturen.

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Heinz Demisch – Farbe und Imagination

Eine Ausstellung in Iserlohn, bis 14. April 2019
Villa Wessel

Stephan Stockmar

Heinz Demisch (1913-2000) ist als Autor bekannt geworden. Als einer der ersten hat er sich vor dem Hintergrund der Anthroposophie mit moderner Kunst beschäftigt, zunächst mit Franz Marc (1948), dann mit «Vision und Mythos in der modernen Kunst» (1959). Der Zeiten und Räume übergreifende Blick des langjährigen freien Mitarbeiters der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommt in den Motiv-Monographien «Die Sphinx» (1977) und «Erhobene Hände» (1984) zum Tragen. Doch eigentlich war er selbst Maler. Nun ist sein zwischen 1932 und 1946 entstandenes Werk erstmals öffentlich ausgestellt, in der Villa Wessel in Iserlohn. In deren schönen Räumen werden seit 1991 regelmäßig Ausstellungen mit Werken der klassischen Moderne, des Informel und der zeitgenössischer Kunst gezeigt.

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Eduardo Chillida – Architekt der Leere

Ausstellung im Museum Wiesbaden, bis 10. März 2019

Es ist unglaublich: Der baskische Bildhauer Eduardo Chillida (1924-2002), dem das Museum Wiesbaden gerade eine umfassende Retrospektive widmet, baut mit der Leere! Er gestaltet mit seinen Materialien nicht nur den umgebenden Raum oder fasst ihn ein, sondern gibt ihm auch eine eigene Standfestigkeit. So steht der tonnenschwere stählerne »Mesa del arquitecto – Tisch des Architekten« (1984) nicht nur auf drei materiellen Beinen, sondern wird auch durch den Raum, der die Ausschnitte in der schweren Tischplatte füllt, gestützt und erhält so erst sein volles Gleichgewicht. Auch in anderen Arbeiten, skulpturalen wie grafischen, verschwimmt immer wieder der Unterschied zwischen dem umfassenden Stoff und dem eingefassten Raum; der Raum selbst verdichtet sich ins Wesenhafte – die Leere füllt sich.

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Paul Klee zu Gast bei Max Liebermann

Innere und äußere Gärten:
Paul Klee zu Gast in Max Liebermanns Villa am Wannsee in Berlin, bis zum 17. September 2018

Stephan Stockmar

Auch wenn Klee sich durch reale Gärten vielfach hat anregen lassen – schon als Kind hat er einen »Quadratmetergarten« bepflanzt – sobildet doch die Kunst selbstseine eigentliche Gärtnerei.Der Garten war für ihn nie nur ein äußerer Ort, den er (ab)malte, sondern immer auch ein Ort innerer Entwicklung und der Verarbeitung dessen, was er erlebt hat. Nach der Rückkehr von seiner Italienreise 1901/02 – »überfressen, ich Nimmersatt« – verbrachte er viel Zeit im elterlichen Garten in Bern – im »Verdauungsschlaf«. »Dann das Erwachen – fürchterlich vielleicht, die Umkehrung des Weges, statt hinein in mich: heraus von mir!«

Nun ist Paul Klee mit einer kleinen, aber feinen Auswahl seiner zahlreichen Gartenbilder in Max Liebermanns Villa am Berliner Wannsee zu Gast, der seinerseits ein passionierter Gartenmaler war. Daraus ergibt sich eine spannende Gegenüberstellung. Während Klee sich um die »Synthese von äußerem Sehen und innerem Schauen« (1923) bemühte, ging es Liebermann vor allem darum, »dem Beschauer den Eindruck von Natur [zu] suggerieren« (1916), wobei seine Bilder durchaus ein ganz individuelles Naturerleben zeigen und ermöglichen.

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Bacon und Giacometti

Aus der Kraft des Scheiterns: Auf der Suche nach einem neuen Menschenbild
Eine Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen/Basel, bis 2. September 2018

Stephan Stockmar

Im Winter 2016/17 war in Frankfurt die Ausstellung »Giacometti – Nauman« zu sehen, in der auf produktive Weise zwei Künstler miteinander konfrontiert wurden, die sich nie begegnet sind und sich auch nicht aufeinander bezogen haben.1Das ist bei Francis Bacon (1909-1992) und Alberto Giacometti (1901-1966), die gerade zusammen in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel gezeigt werden, anders: Sie sind sich spätestens 1962 in London, anlässlich Bacons Ausstellung in der Tate Gallery, näher gekommen, und 1965, als Giacomettis dort ausstellte, wurde diese Begegnung vertieft. Ernst Beyeler war mit beiden bekannt, hat als Galerist viele ihrer Werke vermittelt, und auch in seiner eigenen Sammlung sind beide Künstler prominent vertreten.

Auch die gegenwärtige Gegenüberstellung ist in beide Richtungen sehr erhellend, verkörpern beide Künstler doch, wenn auch auf sehr verschiedene Weise, grundlegende Aspekte des Menschseins in ihrem Leben und Werk, getrieben von einer grenzgängerischen Obsessivität. Währenddessen ist Bruce Nauman ganz in der Nähe anwesend – mit der großen Retrospektive im Münchensteiner Schaulager (bis 26.8.2018).

Im Eingangsbereich zur Ausstellung empfangen den Besucher großformatig ausdrucksstarke Fotos von Graham Keens aus dem Jahr 1965, die die Künstler miteinander im Gespräch zeigen: Giacometti gleicht mit seinem hageren, scharf geschnittenen Profil durchaus manchen der plastischen Köpfe, wie er sie vor allem von seinem Bruder Diego modelliert hat. Und auch Bacons dagegen kindlich-voll wirkende Gesicht scheint dessen Bildern entstiegen zu sein. Beide wirken auf ihre Weise irgendwie zeitlos – ewig alt und ewig jung zugleich.

Beider Werk dreht sich um die menschliche Gestalt und das menschliche Antlitz – was in der Nachkriegszeit, unter dem Einfluss vor allem des abstrakten Expressionismus, keineswegs selbstverständlich war. Giacomettis Gestalten sitzen, stehen oder schreiten, während Bacons voluminöse Figuren oft auch liegen. Dabei verbindet sie ein Modell: Giacometti lernte die englische Künstlerin Isabel Nicholas (später Rawsthorne) 1935 kennen und formte nach ihr 1937/38 zwei plastische Köpfe und einige Porträtzeichnungen. Für Bacon wird sie in den 60er und 70er Jahren zu einer seiner engsten Freundinnen, die er mehrfach porträtiert. Sie ist es wohl auch, die die beiden näher zusammengebracht hat. Darüber hinaus gibt es weitere Persönlichkeiten, die mit beiden sehr verbunden waren.

Und in beider Leben spielt der Tod eine existentielle Rolle: Während Giacometti der Tod schon in jungen Jahren quasi leibhaftig begegnet ist – er hat dieses prägende Erlebnis 1946 in dem Schlüsseltext »Der Traum, das Sphinx und der Tod von T.«eindrucksvoll beschrieben –, ist Bacon, der zeit seines Lebens an chronischem Asthma litt,mit dem Tod zweier seiner Lebensgefährten konfrontiert. Den Suizid von George Deyer hat er u.a. in dem in der Ausstellung gezeigten Triptychon »In Memory of George Deyer« (1971) verarbeitet.

So unterschiedlich ihre Auffassung vom menschlichen Leib auch ist, so ist sie bei jedemvon diesen Grenzerfahrungen geprägt. Ja, aus beider Werken scheint ein ewiges Scheitern zu sprechen, eineArt Todessehnsucht, die sich auch in ihrerobsessiven Art und Weise zu leben, zu liebenund zu arbeiten zeigt, immerschonungslos gegen sich selbst.In nächtlichen Gesprächen haben sie sich über ihre künstlerische Praxis und Überzeugungen ausgetauscht, während »Bacon unmäßig viel trank und Giacometti unmäßig viel rauchte«.2

Doch während der LebemannBacon ganz auf Spontaneität setzte und – meist von Fotos ausgehend – seine Leiber willkürlich erscheinenden Metamorphosen unterzog, war Giacometti ein ausdauernder Zeichner noch im plastischen Arbeiten, getrieben von der Suche nach Wahrheit, die ihn das konkret in endlosen Sitzungen vor ihm sitzende Modell machmal vergessen ließ. Bacons Bilder sind oft von einer grellen Farbigkeit, während Giacometti die Grauvariationen meisterlich beherrschte.

DieGestaltenvon Bacon wirken auf mich so, als wennsich in ihnen die Seele durch den sie dominierenden Leibesrumpf kämpft, dem sie sich, ihn dabei verdrehend und verzerrend, zu entwinden sucht. Dabei blitzt in den Augen immer wieder eine Wachheit auf, die das Tier im Menschen zu durchschauen scheint und den Leib zum sich verselbständigenden Doppelgänger werden lässt. – In Giacomettis Werken, so mein Eindruck,verliert der Leib durch die ihn buchstäblich tief prägende Formungvon außen zunehmend seine Innerlichkeit und gerinntdabei zum Konzentrationspunkt einer den Leib umschließenden unsichtbaren, aber raumwirksamen Aura. Was in die äußere Erscheinung tritt, scheint im Wesentlichen Kopf zu sein, so klein dieser manchmal auch auf den überlängten Rümpfensitzt.

Trotz dieser Gegensätzlichkeiten finden sich auch auffallende Übereinstimmungen:Beide(insbesondere aber Giacometti)ursprünglich demSurrealismus verpflichtetenKünstler binden ihre Figuren immer wieder in käfigartige Strukturen ein, wobei Bacon diesen Kunstgriff offenbar von Giacometti übernommen hat.Zwarsprengt bei ihmgelegentlich die Form diesen Rahmen, doch der Schrei z.B.der von Velázquez entlehnten Papst-Figur scheint mirnicht über diesen herauszudringen. Für Giacomettis Figuren dient der Rahmen dagegenals Mittel zur Konzentration, die wie in einer Gegenbewegung den umgebenden Raum erfahrbar werden lässt. Nicht nur die langeNase durchstößt demonstrativ den Käfig, sondern auch der Blick der durch zigfache Überzeichnungunkenntlich gewordenen Augen der von im Porträtierten richtet sich in unbestimmte Weiten.

Sowerden zwei unterschiedliche Formen von Stille erfahrbar, die die beiden Schwellen des Lebens berühren.Und zurTodessehnsucht gesellt sichstets auch ein Geburtsschmerz. In der Zusammenschau beider Werke wird ein Drittes erahnbar: Der neue Mensch.

Der aufschlussreiche Katalog kostet in der Ausstellung CHF 62,50, im deutschen Buchhandel EUR 58,00.

1  Vgl. Stephan Stockmar: »Eine Plastik ist kein Objekt, sie ist eine Fragestellung« Alberto Giacometti und Bruce Nauman. Zur Produktivität eine Konfrontation in der Frankfurter Schirn, in: die Drei, 12/2016.
2. Michael Peppiatt: Francis Bacon und Alberto Giacometti: Parallele Sichtweisen einer schrecklichen Wahrheit, im Katalog zur Ausstellung Bacon – Giacometti, S. 168–175